Danse Macabre – Lenormandkarten tauchen aus der Gruft auf!
Kirsten Buchholzer im Gespräch mit Andrea Aste Zusammengefasst von Marion Lindenau
Der Tarotkünstler Andrea Aste dürfte zumindest den regelmäßigen Zuschauer/innen von Kirstens YouTube-Kanal ein Begriff sein: Die beiden guten Bekannten trafen sich am 11. April des vergangenen Jahres zum Gespräch. Der gebürtige Italiener, der in Argentinien aufgewachsen ist, lebt seit mittlerweile über zehn Jahren in Großbritannien. Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte er gerade London verlassen, um sich ein neues Zuhause weiter nördlich auf dem Land zu suchen. Und auch beim Gesprächsthema hatte Andrea gerade Neuland betreten. Nach seinen verschiedenen Tarotdecks, die entweder Rider-Waite- oder Marseille-basiert waren, hat er sich nun an die Gestaltung eines Lenormand-Decks gewagt: „The Ghastly Lenormand from the Grave“!
Im Gespräch mit Kirsten ließ Andrea uns teilhaben an der Geschichte, die hinter seinem neuen Werk steckt. Wie bei seinen letzten Projekten, dem „Book of Shadows“, dem „Oracolarium“ und dem „Tarot of Light and Shadow“, über die Ihr in der Tarot Heute Nr. 3/21 nachlesen könnt, ist auch das „Ghastly Lenormand“ eingebettet in eine umfassende Erzählung, die Andrea noch weiter ausbauen will, wie er im Interview anklingen ließ.
Andrea berichtete Kirsten, dass er nicht nur Großbritannien liebt, sondern dass er auch gern mit seinem Lebensgefährten nach Frankreich reist. Dort steht jedes Mal der berühmte Pariser Friedhof „Père Lachaise“ auf dem Programm, und dort hat er das Grab von Marianne Lenormand ausfindig gemacht! Ihren Grabstein ziert ein Foto, und das Grab schmücken mehrere Gegenstände, vor allem auch Kartendecks. Andrea fand heraus, dass Anhänger/innen aus der ganzen Welt ihre Kartendecks über Nacht auf dem Grab liegen lassen, um sie zu weihen oder aufzuladen. Andreas Fantasie war geweckt und er beschrieb, wie er vor seinem inneren Auge Mademoiselle Lenormand aus ihrem Grab aufsteigen sah, um sich bei ihm bitterlich zu beklagen: Diese 36 Karten, die heute alle Leute mit ihrem Namen in Verbindung brächten, seien ja gar nicht vollständig, es würden noch mehrere fehlen! Ein christlicher Neffe der Lenormand habe mehrere Karten verbrannt, um ihren esoterischen Umtrieben ein Ende zu setzen! Und da ihr das Schicksal nun schon einmal einen Künstler vor die Füße gestellt habe, könne doch er, Andrea Aste, nun die Vervollständigung des Decks übernehmen!
Kirstens Einwand, dass man ja gar nicht genau bestimmen könne, mit welchen Karten die historische Mlle. Lenormand nun genau gearbeitet habe, wischte Andrea beiseite: Kartomantie aller Art könne noch so gründlich erforscht werden, Platz für Mythen und Legenden werde immer bleiben. Und die Verwendung von Karten, insbesondere des Tarot, zum Erzählen von Geschichten sei so fest in der Literaturgeschichte verankert, dass sie gar nicht mehr hinterfragt würde.
Mit dieser Feststellung starteten die beiden in die Betrachtung der Bilder, die Andrea bereits fertiggestellt hat, das Deck war nämlich zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht vollständig. Wie bei den meisten Projekten des Italieners gibt es auch hier wieder eine Kampagne auf Kickstarter. Den Link zur Seite findet Ihr unten. Arbeitsproben kann man sich auf Andreas Blog bei Substack ansehen, auf dem er auch die Geschichte der Karten erzählt. Die Seite trägt den Namen „The Inexistent Library“, also die Nicht-existente Bibliothek. Die Fans, die seinem Blog folgen, nennt er Crypt Club, also Krypta-Klub.
Das erste Bild, das Andrea Kirsten und uns vorstellte, war die Dame, die das Titelbild zieren soll, und wer sollte darauf abgebildet sein, wenn nicht die Lenormand persönlich? Allerdings zeigt das Bild sie so, wie sie Andrea auf dem französischen Friedhof erschienen ist – als kunterbuntes Skelett, direkt aus ihrem eigenen Grab entstiegen, wie es der erweiterte Titel der Karten – „das schreckliche Lenormand aus dem Grab“ – bereits andeutet. Der Stil ist unverkennbar Andrea Aste: bunt und etwas comic-haft. Damit erinnert das Deck bereits jetzt an Darstellungen aus dem Umfeld des mexikanischen Día de los Muertos, der ja geprägt ist durch die kunterbunte Darstellung eigentlich morbider Bilder von Toten. Noch deutlicher wird dies bei den Karten Dame und Herr, die Andrea zu einem späteren Zeitpunkt präsentiert. Sie sind eindeutig von der Figur La Catrina Calavera aus Mexico inspiriert. Dem Herrn hat Andrea einen mächtigen Schnäuzer verpasst, wie er ihn bis vor kurzem noch selbst getragen hat. Die Gesichtshaarpracht hatte ihn zwischenzeitlich so sehr genervt, dass er zum Rasierer gegriffen hat. Die Kleidung des Herrn ist an einen bekannten Matador angelehnt, der an AIDS gestorben ist. Von ihm gibt es ein berühmtes Portrait mit einem Stock in der Hand, auf dessen Knauf ein Schädel abgebildet ist. Das wollte Andrea unbedingt für seinen Herrn adaptieren.
Und es gibt, auch typisch Andrea Aste, ein paar popkulturelle Anspielungen zu entdecken. So ist der Reiter niemand anderes als der Kopflose Reiter aus der bekannten Kurzgeschichte „Die Legende von Sleepy Hollow“ von Washington Irving. Andrea berichtete, dass er sich bei der Cartoon-Verfilmung von Disney sehr gegruselt hätte. Mal ehrlich, wer hätte der Reiter denn sonst sein sollen? Eigentlich hat er da recht …
Das nächste Bild zeigte uns Klee, der aus einem Schädel herauswächst. Kirsten fand, dass alle Bilder uns Betrachter/innen dazu einladen, sie wie ein Bühnenbild zu betrachten. Tatsächlich legt Andrea sehr viel Wert auf die Ausgestaltung der Bilder. Für ihn müssen die Bilder nicht nur Motive abliefern, sie sollen Kunst sein. Er nimmt das Thema Divination sehr ernst, weil es auch ein fester Bestandteil seiner Familientradition war und er damit aufgewachsen ist. Deswegen hat er auch etwas mit dem Bären gerungen und seinen Impuls unterdrückt, ein blutverschmiertes Ungetüm zu gestalten. Das Bild soll schließlich die Bedeutung der Karte gut transportieren. Der Bär guckt zwar grimmig, aber er ist kein Monstrum.
Genauso viel Wert legt Andrea auf gute Qualität der Bilder und später auch der Druckerzeugnisse, weshalb er mittlerweile digital arbeitet. Dadurch erspart er sich die Auseinandersetzung mit Verzerrungen und verfälschten Farben, die beim Einscannen auftreten können. Die Arbeit geht natürlich auch wesentlich schneller von der Hand, als die Malerei mit Ölfarben und Leinwand. Außerdem sind multimediale Weiterentwicklungen, die ja typisch für Andrea Aste sind, so einfacher zu bewerkstelligen. Wer weiß, vielleicht bekommen wir bald einen Animationsfilm über Marianne Lenormand?
Beim Bild für den Hund hat Andrea sich von der berühmten japanischen Geschichte von Hachiko inspirieren lassen. Hachiko gehörte in den 1920er Jahren einem japanischen Professor und holte ihn jeden Tag vom Bahnhof ab. Nach dessen plötzlichem Tod ist Hachiko noch zehn Jahre lang jeden Tag zum Bahnhof gelaufen, um vergeblich auf sein Herrchen zu warten. So wurde der Akita in Japan zum Symbol der unverbrüchlichen Treue, und als der Hund 1934 tot in den Straßen des Stadtteils aufgefunden wurde, nahm das ganze Land Anteil. Kirsten warf ein, dass auf der Karte „Treue“ der Traditionellen Orakelkarten auch ein Hund auf einem Grab abgebildet ist. Außerdem hat der Hund als Motiv einen starken Bezug zur Unterwelt. In den Mythologien vieler Völker gibt es Wachhunde, die den Zugang zur bzw. Austritt aus der Unterwelt bewachen, so zum Beispiel Kerberos bei den Griechen oder Garm in der nordischen Mythologie.
Die Frage, bei welchem Bild er sich schwergetan hat habe, konnte Andrea sofort beantworten: Es war natürlich das Kind. Niemand denkt gern an tote Kinder, auch wenn die Kindersterblichkeit, gerade in den vorherigen Jahrhunderten, nicht selten hoch war. Das Bild zeigt ein Skelett in einem niedlichen Matrosenanzug mit einem Teddybären in der Hand, das trotz allem ziemlich viel Flair von „Michel aus Lönneberga“ versprüht. Andrea ist hier ein Spagat in der Darstellung gelungen.
Auch von den zusätzlichen Karten hatte Andrea schon ein Beispiel für uns. Es sollen insgesamt 16 werden, damit das Deck auf die Anzahl von 52 Karten kommt. Er präsentierte uns das „Tanzende Skelett“, das er am Motiv des Totentanzes bzw. „Danse Macabre“ aus dem 15. Jahrhundert angelehnt hat. Es stammt aus der Hochphase der Pest, in der die Menschen ihre Traumata durch diese Darstellungen verarbeitet haben. Das Skelett soll non-binär zu verstehen sein und so auch als weitere Personenkarte dienen können.
Für seine Arbeit hat sich Andrea Aste das Buch „Die Geschichte des Todes“ (L’Homme devant la Mort) von Philippe Ariès erneut vorgenommen, das er in seinem Studium zum ersten Mal gelesen und in das er sich gleich verliebt hatte. Ariés war ein Historiker, der sich als einer der ersten Forscher dem Forschungszweig der Mentalitätsgeschichte verschrieben und versucht hat, aufgrund von historischen Belegen nachzuzeichnen, wie sich die Einstellung der Menschen zum Tod über die Jahrhunderte hinweg verändert hat. Tatsächlich hat sich jahrhundertelang – von Homer bis Tolstoi, wie Ariès es ausdrückte – nicht viel verändert: Der Tod war ein alltäglicher, wenn auch nicht immer willkommener Begleiter der Lebenden. Erst in der jüngsten Zeit, etwa seit dem 19. Jahrhundert, konstatierte der Autor eine zunehmende Entfremdung der Menschen vom Tod, die letzten Endes darin gipfelt, dass wir unsere Alten und Kranken in Pflegeheime abschieben, um ihr Sterben möglichst weit von uns abzurücken. Also Pflichtlektüre für Leute, die ein Projekt verfolgen, wie Andrea Aste.
Auf Kirstens Frage hin, wo Andrea eigentlich seine Inspirationen findet, antwortete er, dass sie ihn nachts am Fuß rütteln, wie es seine Mutter früher getan hätte. So kämpfe er gerade mit der Karte „Die Ruten“, weil er das Motiv so antiquiert findet und auf der Suche nach einer moderneren Entsprechung ist. Für andere Karten hat er schon seit geraumer Zeit eine Ideenliste angelegt, die er stetig erweitert und plündert. Sehr hilfreich ist dabei auch sein Interesse für alte Sprachen und obskures Wissen jeglicher Art. Auch schwirre ihm seit einiger Zeit der Begriff Pharmakon durch den Kopf, der sowohl Medizin als auch Gift bedeuten kann, und nun überlegt er, wie er die Weisheit „Die Dosis macht das Gift“ als Karte umsetzen kann.
Kurz kamen die beiden auch auf das Begleitbuch zu sprechen. Andrea hat sich vorgenommen, unbedingt mehrsprachig zu werden und die größten Sprachgebiete abzudecken. Dazu gehören neben Englisch natürlich Italienisch und Spanisch als seine Muttersprachen, aber auch Französisch und Deutsch.
Das Interview endete mit Kirstens Frage, wann Andrea denn nun endlich gedenke, sie in Hamburg zu besuchen – schließlich gibt es dort mit dem Ohlsdorfer Friedhof den größten Gartenfriedhof der Welt! Andrea war begeistert. Er berichtete von seinen Visumsproblemen seit dem Brexit, die sich nun aber endlich aufgelöst hätten. So steht seiner weiteren Arbeit am schrecklichen Lenormand aus dem Grab nichts mehr im Weg und wir sind gespannt!
Andrea Aste und das Ghastly Lenormand im Internet: Blog: https://theinexistentlibrary.substack.com
Kickstarter: https://www.kickstarter.com/projects/andreaaste/the-ghastly-lenormand-from-the-grave
Adresse des Videos https://www.facebook.com/tarotverband/videos/799541885393350